https://www.youtube.com/watch?v=S7LcNUxcQ8Y

Im Netz macht gerade ein Video die Runde, das Joanne Milne in dem Moment zeigt, wie zum ersten mal ihre Cochlea-Implantate eingeschaltet werden. Sie versteht sofort Sprache und beantwortet die Fragen der Audiologin. Außerdem klänge alles „zu hoch“. Wie kann das sein, wenn sie doch von Geburt an gehörlos ist?

Die Antwort ist ganz einfach: Joanne Milne war zumindest in ihrer Kindheit nicht vollständig taub und muss Hören gelernt haben. In den ältesten Quellen wird sie als „profoundly deaf“ bezeichnet, was auf Deutsch in etwa mit „stark schwerhörig“ zu übersetzen ist – ein sehr beliebter Übersetzungsfehler. Der Guardian verkürzte zu „deaf since birth“ und die Süddeutsche schreibt „taub geboren“. Klingt nach Haarspalterei, ist aber ein wichtiger Unterschied. Ein Cochlea-Implantat kann nur dann helfen, wenn das Gehirn auch in der Lage ist, die eingehenden Signale zu verarbeiten. Das geht nur, wenn in der frühkindlichen Entwicklung die entsprechenden Gehirnstrukturen herausgebildet werden, was wiederum voraussetzt, dass das Kind etwas hört.

Zwar können auch erwachsene Gehörlose mit Cochlea-Implantat hören lernen, sie werden aber in den allermeisten Fällen auch nach langer Reha große Schwierigkeiten haben, Sprache zu verstehen. Das ist ein Grund für die breite Enttäuschung unter Gehörlosen, was das Cochlea-Implantat betrifft. Und deshalb ist es so wichtig, dass einerseits Gehörlosen Untertitel und Gebärdensprache-Dolmetscher zur Verfügung stehen und andererseits Kinder – wie heute weitgehend üblich – bereits mit 9-12 Monaten operiert werden. Sie haben dann sehr gute Chancen auf ein hörendes Leben wie alle anderen Kinder auch. Zwar gibt es in Tierexperimenten auch Hinweise auf eine hohe Plastizität des Gehirns auch in späteren Jahren, jedoch sind diese Ergebnisse bisher nicht auf den Menschen übertragbar. Die Forschung steht hier noch ziemlich am Anfang.

Das Beispiel zeigt, dass wir trotz aller Fortschritte noch weit davon entfernt sind, Menschen „reparieren“ zu können – ganz abgesehen von der Frage, ob es eine gute Idee ist, mit technologischen Mitteln lauter „Normmenschen“ zu produzieren, die alle einheitliche Fähigkeiten haben. Cyborgism steht für Vielfalt: Vom Menschen, der unverändert so leben will wie er ist, bis zum Menschen, die sich erst mit technischen Erweiterungen wirklich als sie selbst fühlen. In diesem Kontinuum müssen alle die gleichen Chancen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das nennt man* übrigens Inklusion.

Joanne Milne hat das Usher-Syndrom, das nicht nur mit Schwerhörigkeit einhergeht sondern auch dazu führt, dass die Patienten langsam erblinden. Wir hoffen, dass Retina-Implantate in absehbarer Zeit qualitativ so gut sind, dass Joanne einen zweiten solchen Glücksmoment wie im Video erleben darf.

5 thoughts on “Cochlea-Implantat: Zum ersten mal Hören

  • Hardy

    Hi, Enno,
    ein Cochlea-Implantat kann NICHT „nur dann helfen, … wenn in der frühkindlichen Entwicklung die entsprechenden Gehirnstrukturen herausgebildet werden, was wiederum voraussetzt, dass das Kind etwas hört“.
    1. Ein CI kann auch vielen gehörlos geborenen Menschen helfen, wenn sie nach Einsetzen des CI ein spezielles Hörtraining durchlaufen, wie das heute meist der Fall ist. Das zahlt sogar die Krankenkasse.
    So einen Fall gibt es in meiner Bekanntschaft: Hendrik war taub von Geburt, bekam mit etwa 6,7 Jahren ein CI und hat in einem Hörtraining gelernt, die völlig neuen Höreindrücke Wörtern und Geräuschen zuzuordnen. Heute spricht und hört Hendrick wie ein Schwerhöriger – mithin weitaus besser als zur Zeit, als er kein CI hatte. Problem bei Hendrick und vielen Schwerhörigen: Sie verstehen keine Gebärdensprache, sind also auf Lautsprache angewiesen; sie verstehen zwar lautsprachlich vieles, aber eben nicht alles – und können das Fehlende nicht durch Gebärdensprache ergänzen.
    2. Sprachkompetenz (und die zugehörigen Gehirnstrukturen) kann nicht nur durch Hören entwickelt werden, sondern auch durch Gebärdensprache – dazu gibt es zahlreiche Untersuchungen. Folge: Wird ein Gehörloser von Kindheit an mit Gebärdensprache erzogen, entwickelt er eine ähnlich gute Sprachkompetenz – und damit entsprechende Gehirnstrukturen – wie ein hörendes Kind, das lautsprachlich erzogen wird.
    3. Nicht zur Norm um-operieren lassen, möchte sich meine Tochter Charlie. Sie lehnt CIs ab, bleibt „taub aus Überzeugung“. Nachteil – wie ich ihn sehe: Die Welt hört und spricht, Charlie braucht DGS-Dolmetscher bei jedem Gang zum Arzt, Amt, Uni, Dozent, Kino, Bundesbahn, ja sogar bei uns, ihren Eltern, denen von „Fachleuten“ immer wieder geraten wurde, nicht zu gebärden. Wir lernen DGS, aber mühselig. Ein CI würde helfen – uns allen. Aber sag das nicht Charlie…

    • Enno

      Du schreibst es selbst „hört und spricht wie ein Schwerhöriger“. Mit dem CI wird oft verbunden, dass sich ein quasi normales Hören erzielen ließe. Dieses ist jedoch nur bei Spätertaubten möglich und wenn man Kleinstkinder operiert. Natürlich *kann* dass CI auch älteren Gehörenlosen helfen, zu hören oder nach viel Training Sprache zu verstehen, aber in den meisten Fällen bleibt der Erfolg dabei überschaubar. Der eine Gehörlose freut sich drüber, der andere Gehörlose mag das als Last empfinden – eine Frage von Mentalität und (Hör-)Biographie.

      • Hardy

        Hendrick empfindet es als großen Vorteil, mit CI besser hören und sprechen zu können, obwohl er schwerhörig bleibt. Vor etwa 20 Jahren ist man dazu übergegangen, nicht nur älteren Gehörlosen, sondern auch Kleinstkindern, Babys, ein CI einzusetzen, um ihr Gehirn frühest möglich mit Hörreizen zu versehen, damit sich Hörstrukturen im Hirn aufbauen und damit Sprachkompetenz.
        Ob der „Erfolg“ nach Einsatz von CI „in den meisten Fällen überschaubar bleibt“, ist nirgendwo empirisch untersucht. Es gibt ansatzweise Abschätzungen in Schweden und Dänemark, die das CI insgesamt als Erfolg ansehen – mit nur wenigen Misserfolgen. Allerdings wollen skandinavische Länder Gehörlose gerne durch Einsatz von CIs „abschaffen“ – auch um Kosten für Dolmetscher zu sparen.
        Ob sich ein Gehörloser über ein CI freut oder nicht, hängt weniger von seiner Mentalität ab als vielmehr von seinen subjektiv erlebten Hör-Erfolgen mit CI. Diese sind u.a. abhängig von seiner Hör-Biografie: taub geboren – oder später ertaubt, mit Gebärdensprache erzogen – oder mit Lautsprache.
        Um eines klar zu stellen: Ich plädiere nicht für jeden Gehörlosen für ein CI – sondern für jene Gehörlose, bei denen es voraussichtlich zum Erfolg führen wird. Dann aber so früh wie möglich, also schon als Baby – das allerdings dann keine Entscheidungsgewalt über CI oder nicht-CI hat. Grund: Wenn ich mit CI besser hören und sprechen kann als ohne, kann ich an der Welt um mich herum besser teilnehmen.

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